verfasst von Prof. Dr. H. Geißler am 19. 07. 2022
Wenn von Praxis gesprochen wird, wird häufig eine Vorstellung zugrunde gelegt, die davon ausgeht, dass Praxis das Gegenteil von Theorie ist. In diesem Sinne bezieht sich Praxis auf die faktische Wirklichkeit, so wie sie aktuell ist, wie sie früher war und in Zukunft wahrscheinlich sein wird. Theorie hingegen bezieht sich auf die - oft recht unterschiedlichen - Vorstellungen, die mit Blick auf diese Wirklichkeit entwickelt werden.
So betrachtet sind für Coaching zwei Praxisfelder von zentraler Bedeutung, nämlich die Lebenspraxis der Coachees, in der sie ihr Coachingproblematik erleben und bearbeiten (müssen), und die Praxis des Coach-Coachee-Dialogs, in dem diese Problematik und die sich ihr anbietenden Lösungsmöglichkeiten thematisiert werden.
Folgt der (z.B. von Jürgen Habermas entwickelten) Sozialphilosophie, stellt sich sowohl mit Blick auf die Lebenspraxis wie auch auf die Praxis des Coachingprozesses die Frage, durch welche grundlegenden Merkmale sie sich auszeichnen. Stark vergröbert hat die sozialphilosophische Auseinandersetzung mit dieser Frage zwei komplementäre Antworten hervorgebracht.
Die erste Antwort zielt auf die Tatsache, dass Menschen in der Lage sind, sich Ziele zu setzen und mit Bezug auf sie Mitteln und Maßnahmen zu entwickeln und einzusetzen, mit denen diese erfolgreich erreicht werden können.
Die alternative Antwort hierzu ist, dass Menschen darüber hinaus auch in der Lage sind, über den Sinn ihres Dasein und damit auch über den Sinn ihrer Ziele und zielführenden Aktivitäten nachzudenken und in diesem Zusammenhang ethische bzw. moralische Begründungszusammenhänge zu entwickeln.
Mit Bezug auf diese beiden Alternative begründet sich die Gegenüberstellung von Technik bzw. Sozialtechnologie und Praxis. In diesem Sinne kann man mit Blick auf die Wirklichkeit menschlichen Daseins (sozial)technologische und praxeologische Aspekte unterscheiden.
Mit Bezug auf diese Differenzierung lässt sich Coaching unterschiedlich begründen, nämlich als Sozialtechnologie oder als Praxeologie.
Literatur
Geißler, H. & Rödel, S. (2023). Praxishandbuch professionelles Online-Coaching. Weinheim, Basel: Beltz
Habermas, J. (1981). Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1 u. 2. Frankfurt/M.: Suhrkamp